Vortrag des Staatssekretärs des Ministeriums für Auswärtige Angelegen-heiten Finnlands, Herrn Jukka Valtasaari: die Ostsee-Politik und die Nördliche Dimension der Europäischen Union, in Berlin am 14. September 1999
Parlamentarischen Abend der Vertretung des Landes Mecklenburg-Vor-pommern im Gebäude des Deutschen Bundestages in Berlin am 14. September 1999
Herrn Jukka Valtasaari,
Staatssekretärs des Ministeriums für
Auswärtige Angelegen-heiten Finnlands
"Perspektive Ostseeraum"
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, meine Damen und Herren,
ich bedanke mich herzlich bei meinen Gastgebern und insbeson-dere bei Ministerpräsident Herrn Dr. Ringstorff für die Ein-ladung, über eine für Finnland wichtige Frage - die Ostsee-Politik und die Nördliche Dimension der Europäischen Union - vor dieser angesehenen Zuhörerschaft in diesem berühmten Ge-bäude sprechen zu dürfen. Hier im Reichstag von Berlin und in seiner Architektur verbindet sich die Vergangenheit mit Ver-sprechungen eines neuen Jahrtausends, geschichtliche Entwick-lungsprozesse symbolisierend. Über die Erscheinungsformen dieser historischen Hauptströmungen möchte ich heute spre-chen.
Die EU-Osterweiterung, die Nordorientie-rung des wiedervereinigten Deutschland und der Übergang Russ-lands zu einem im Vergleich zur ehemaligen Sowjetunion geo-graphisch und wirtschaftlich mehr westlich- und nördlichori-entierten Staat gehören zu den Entwicklungsprozessen nach dem Kalten Krieg, die sich noch lange auf Europa und insbesondere auf den Ostseeraum auswirken werden. Es sind derartig bedeu-tende Veränderungen, dass wir nicht aussenstehende Beobachter bleiben dürfen, sondern die Möglichkeiten ergreifen müssen. Das ist auch die Grundlage für die aktuellen politischen In-itiativen, die ich zu meinem Thema gewählt habe.
Die Ostsee hat in guten Zeiten unserer gemeinsamen Geschichte ihre Anrainerstaaten verbunden und in dieser Weise auf das Leben von Herrscherhäusern, Völkern und Bürgern eingewirkt. Wir Finnen stellen mit Genugtuung fest, dass an der Ostsee in den 1990er Jahren eifrig damit begonnen wurde, diese Kontakte wieder herzustellen.
Als ich in den 1950er Jahren noch zur Schule ging, lautete eine der Fangfragen meines Geschichtslehrers wie folgt: Als der letzte König der Grossmacht Schweden, Karl XII, im Jahre 1715 nach seinem misslungenen Feldzug nach Schweden zurück-kam, wo stieg er vom Pferde? Die Antwort: in Stralsund, das damals Schweden angehörte. Eine der Fangfragen des Ge-schichtslehrers meiner Kinder könnte lauten: wer ist der schwedische Ministerpräsident, der zuletzt Stralsund einen offiziellen Besuch abgestattet hat? Diese Antwort würde lau-ten: Olof Palme und als sein Gastgeber Erich Honecker. Die Konstellationen ändern sich, aber die Ostsee bleibt eine geopolitsche Realität.
Die Formen des internationalen Umgangs haben sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Die Studentenaustauschprogramme der EU haben die langen Feldzüge im internationalen Umgang ersetzt - auch wenn zur Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756-63) finnische und schwedische Studenten an der Univer-sität Greifswald promovieren konnten.
Nach dem Übergang zu einer freien Informationsvermittlung beschwerte sich der Vor-sitzende der kommunistischen Partei Estlands bei seinen fin-nischen Gastgebern vor etwa zwanzig Jahren, dass das finni-sche Fernsehen, das auch in Estland zu sehen war, zu üppige Lebensmittelwerbespots in seinen Sendungen zeigte. Eine zu reiche Wurstauswahl war angeblich geeignet, das Vertrauen der Esten in das sowjetische System zu untergraben. Bereits die Auswirkungen der Kriege des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts auf die finnische Lebensmittelauswahl bestehen immer noch. Nach Finnland wanderten damals die Kartoffel und der Tabak in Tornistern heimkehrender Soldaten. Die erstge-nannte bildet heute die Grundlage der finnischen Ernährung und der letztgennante ist ein Genussmittel, dessen Verwendung in öffentlichen Gebäuden verboten ist. So "wiederholt sich die Geschichte" in Form von Analogien.
Wenn die finnische Regierung heute den Ostseeraum und die Nördliche Dimension zur Sprache bringt, gründet sich dies auf eine sorgfältige Analyse der Auswirkungen der Beendigung der Blockpolitik und der traditionellen Grossmachtpolitik. Ohne eine richtige Analyse wird auch eine neue Politik nicht ge-lingen.
Unsere Analyse stützt sich auf Folgendes:
1. Der Untergang des Blocksystems in Europa schuf Raum für Diversität im Ostseeraum. Die Entwicklungsunterschiede sind gross zwischen Deutschland und den skandinavischen Ländern einerseits und Polen, den baltischen Staaten und Russland an-dererseits. Zu dieser Region gehören Teile europäischer Schlüsselgebiete wie Rostock und Sankt Petersburg. Darüber hinaus tangiert sie noch andere Regionen, die auch eine glo-bale Bedeutung haben wie die Barentssee und die Nordsee. Die von verschiedenen Ländern und Regionen gebotene Diversität ist eine Herausforderung, die die Entwicklung vorantreibt.
2. Die Politik, die unser gemeinsames Ziel - das vereinte Eu-ropa - anstrebt, stützt sich auf die EU-Osterweiterung und die russische Westorientierung. Diese Prozesse begegnen sich in der Ostsee, an der Ostgrenze von EU-Finnland in Nord-westrussland und in der Barentssee. Die Nördliche Dimension ist keinesfalls eine finnische Erfindung, sondern eine geopo-litische Realität, die auf dem Europäischen Rat in Wien im Dezember vorigen Jahres auch Teil der Politiken der EU wurde. Auf dem Europäischen Rat in Helsinki und bei einem da-vor organisierten Ministertreffen wird man hoffentlich in eine konkrete Phase treten, zur Ausarbeitung eines Aktions-plans.
3. Die Entstehung neuer Staaten in dieser Region brachte neue legitime Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen mit sich, die von anderen Staaten und internationalen Institutionen berück-sichtigt werden müssen. Die baltischen Staaten haben bei-spielsweise ihre eigenen souveränen Bestrebungen. Gleichzei-tig sind in alten Staaten neue Probleme entstanden, wie die sprachlichen Minderheiten und das Gebiet von Kaliningrad, die auch beachtet werden sollen.
4. Nach Beendigung des Blocksystems herrscht in Nordeuropa und im Ostseeraum eine ähnliche Interdependenz, auf der der Marshall-Plan nach dem Krieg und die europäische Wirtschafts-integration der letzten Jahrzehnte basierten. Sicherheit und politische Stabilität werden vor allem mit wirtschaftlichen Mitteln angestrebt.
Das Prinzip der Interdependenz bildet eine analytische Aus-gangsbasis auch für die Politik der Nördlichen Dimension. Sie - wie natürlich Politik überhaupt - muss auf gemeinsamen In-teressen beruhen, - in diesem Fall sogar in einer sehr kon-kreten Weise. Ich werde hier drei Beispiele aus dem Energie-sektor, dem Bereich der Reaktorsicherheit und der Entwicklung der Transportinfrastruktur anführen:
(1) In Europa steigt die Abhängigkeit der EU von importiertem Erdgas von 40% auf 70% bis zum Jahr 2020. Das Potential Russ-lands liegt wesentlich höher als das anderer Produzenten. Seine Gasproduktion beträgt derzeit 500 Millionen Tonnen (Erdöläquivalenz) und die bekannten Vorräte sind um 86 Male grösser als die bisherige Gewinnung. Der grösste Teil davon befindet sich in der Taiga, der Tundra oder der Barentssee.
(2) Auf dem Gipfeltreffen der G7-Länder in München 1992 wurde die sichere Produktion von Kernkraft zur wichtigsten Frage für eine sichere Entwicklung Europas erklärt. In der Nähe der finnischen Grenze im Osten und im Südosten gibt es acht Reaktoren, die über 6000 MW Strom produzieren. Diese Re-aktoren werden älter, ein Teil von ihnen erreicht bald die Grenzen ihrer Nutzungsdauer. In Litauen gibt es zwei Reakto-ren von 1000 MW. Die nationalen Energiepolitiken basieren na-türlich auf nationalen Entscheidungen, aber es liegt im ge-meinsamen Interesse, dass die Erdgasnetze Russlands und Euro-pas mit der Zeit aneinander angeschlossen werden und bei-spielsweise im Ostseeraum ein gemeinsamer Strommarkt geschaf-fen wird. Die Europäische Kommission hat mehrere Studien über den Aufbau von Energieübertragungsnetzen zur Schaffung eines europaweiten Energiemarktes machen lassen.
(3) Wenn wir alle von der Eingliederung Russlands mit immer stärkeren Banden in die europäische Entwicklung sprechen und von unserem gemeinsamen Interesse, dass die Demokratie und die Marktwirtschaft in der Entwicklung dieses Landes immer mehr an Bedeutung gewinnen sollten, können wir zu diesem Zweck offenkundige Schlüsse im Ostseeraum ziehen. 40% der russischen Handelsströme gehen über die Häfen der Ostsee: 70 Millionen Tonnen werden in den baltischen Häfen behandelt, zehn Millionen in Sankt Petersburg, sechs Millionen in Finn-land und drei Millionen in Kaliningrad. Also was Rotterdam für Deutschland ist, ist das Baltikum für Russland.
Da die industrielle Infrastruktur Russlands im Norden viel-mehr an eine Inselwelt als ein Netz erinnert, muß der Augen-merk auf den Transportsektor gerichtet werden. Da Finnland von seinem wichtigsten Marktgebiet Westeuropa aus gesehen bei Transport ein "Überseeland auf dem Wege nach Russland" ist, würde es uns sehr gut passen, dass solche bekannten Strassen-projekte wie Via Baltica, Turku-Helsinki-Sankt Petersburg-Moskau, das die nordischen Hauptstädte verbindende nordische Dreieck und die euroarktische Verkehrsregion von Barents ent-wickelt würden und diese Entwicklung umweltfreundlich ver-wirklicht würde. Die Projekte sind bedeutend, weshalb die Wirtschaft und die internationalen Finanzierungsinstitutionen mit einbezogen werden müssen.
Die mit der Nördlichen Dimension verbundenen Interessen be-schränken sich nicht nur auf den Norden, die Europäische Union oder nicht einmal nur auf ganz Europa. Alle Staaten der nördlichen Regionen, einschliesslich der Vereinigten Staaten und Kanadas, haben ihr Interesse daran gezeigt. Wir müssen also von dieser breiten Basis ausgehen, wenn wir die Nördli-che Dimension in ein Programm umsetzen werden.
Eine Menge entsprechender Beispiele finden wir unter anderem auf den Gebieten Telekommunikation, Umwelt, Bildung, For-schung und Gesundheitswesen.
Aus der Sicht der Europäischen Union, die Finnland jetzt wäh-rend seines Vorsitzes vertritt, ist die Synergie und damit verbundene Mehrwert der wichtigste Wert auch in der Politik der Nördlichen Dimension. Indem man die uneinheitlichen Poli-tiken vereint, die Instrumente zur Durchführung von Projekten über die technische Hilfe hinaus erweitert und die Projekte anhand ihres Wertgewinns auswählt, gelangt man zu einem wirk-samen Ergebnis. Ein finnisches Beratungsbüro stellte kürzlich eine Liste möglicher Projekte in Sankt Petersburg auf und machte zum Kriterium, dass die Investitionen in drei Jahren zurückgezahlt werden, also im Vergleich zu den westlichen normalen Umlaufzeiten in einer sehr kurzen Zeit. Aus dieser Sicht ist die rentableste Investition in Sankt Pe-tersburg die Energieeinsparung. Eine grundlegende Beobachtung im Bericht des Beratungsbüros ist, dass die Heizung eines gleich grossen Zimmers in Sankt Petersburg sechs Mal mehr Energie verlangt als in Helsinki, obwohl das Klima in beiden Städten gleich ist. Es ist kein Wunder, dass nach der Unterzeichnung des Protokolls von Kyoto die schnell-sten Käufer von Emissionen bereits in Russland unterwegs sind.
Jede Zusammenarbeit muss und soll auch nicht von den Regie-rungen durchgeführt werden. Als Folge des im Laufe der Jahre entwickelten gemeinsamen Kulturerbes und von Grenzänderungen entstehen gemeinsame Interessen unvermeidlich auch zwischen benachbarten Regionen. Denken wir nur an die beinahe 1300 km lange finnische Ostgrenze, die nunmehr auch die Grenze der Europäischen Union zu Russland ist. Auf der anderen Seite, in der unmittelbaren Nähe gibt es eine Bevölkerung, die beinahe zweimal grösser ist als die Bevölkerung Finnlands, die Stadt Sankt Petersburg, die ebenso gross ist wie alle nordischen Hauptstädte insgesamt. Dazu kommen auch im internationalen Vergleich bedeutende Waldressourcen, beträchtliche Mineral-vorräte und zentrale strategische Gebiete, ganz zu schweigen von den Herausforderungen wie veraltende Kernkraftwerke, Kernabfall und ein tiefes Wohlstandsgefälle. In den 1990er Jahren hat Finnland mit seinen benachbarten Regionen eine Zu-sammenarbeit entwickelt, die im wesentlichen zwischen den örtlichen Behörden verwirklicht wird.
In gleicher Weise pflegt Mecklenburg-Vorpommern seine Koope-ration mit Stettin und Westpommern u.a. im Rahmen des Euroge-bietes Pomerania.
Deutschland und insbesondere seinen nördlichen Teilen haben wir eine jahrhundertelange Förderung der Ostsee-Zusammenar-beit zu verdanken. Von den deutschen Bundesländern wirkt sich der wirtschaftliche Fortschritt im Ostseeraum insbesondere auf Mecklenburg-Vorpommern aus, u.a. im Bereich des Verkehrs. Als EU-Vorsitzland sind Finnland und wir Finnen besonders zu-frieden mit der aktiven Mitwirkung der nördlichen Bundeslän-der bei der Entwicklung des Inhalts der Nördlichen Dimension. Unter dem Vorsitz von Mecklenburg-Vorpommern kommt eine Ar-beitsgruppe der nördlichen Bundesländer zusammen, die eine Stellungnahme zur Nördlichen Dimension vorbereitet.
Als Trumpf des Ostseeraums kann sein einheitliches Kulturerbe betrachtet werden, das durch eine enge Wechselwirkung ent-standen ist. Ich habe Anfang der neunziger Jahre einen Arti-kel des französischen Journalisten und Philosophen Jean-François Revel gelesen, dessen Leitgedanke war, dass die Ein-sicht lediglich als Ergebnis einer kulturellen Wechselwirkung entstehen kann. Revel scherzte bereits damals über die Bemü-hungen der französischen Regierung, in Frankreich die Mög-lichkeiten der amerikanischen Filmindustrie einzuschränken, zu deren führenden Namen Erich von Stroheim, Charlie Chaplin und Frank Capra zählen. Dasselbe könnten wir im Ostseeraum sagen: nach Finnland haben die Sinebrychoffs das Bier, die Gutzeits die Sägeindustrie, die Öschs den Käse, die Pauligs die Kaffeerösterei und die Fazers die Süsswaren gebracht. Keine typisch finnischen Namen!
Viel hat man in diesem Jahrzehnt von der Neubelebung der Hanse-Zeit geredet. Diese Gleichsetzung ist nicht in jeder Hinsicht sehr gelungen, denn die Hanse hat nicht den Freihan-del, sondern eine Art Protektionismus vertreten, und alle Kü-stengebiete der Ostsee konnten nicht die Früchte des Erfolgs gleichberechtigt geniessen. Trotz dieser Vorbehalte ist der Kerngedanke des Hansevergleichs über einen einheitlichen Ost-seeraum und eine rege Wechselwirkung an sich faszinierend. Thomas Mann beschreibt das hanseatische Ideal der Freiheit und der unbeschränkten Möglichkeiten wie folgt: "Hanseatisch ist die besonnene Bürgerlichkeit, ist die Standhaftigkeit, die die Freiheit selber ist."